Flaute im Sturmgepäck
Wie nach durchzechter Nacht üblich scheint alles am Morgen des neunten Seetages etwas behäbiger. Sonne, kaum Dünung, keine Wolke soweit das Auge reicht, und noch etwas ist anders als sonst. Wir stellen fest: viel Wind ist wenig, die Bootsgeschwindigkeit lässt es sogar zu, die Angeln auszuwerfen, doch angesichts des eigentlichen Regattaziels (schnell von B nach C und dann nach HH) ist die Motivation gering.Außerdem beißen die Makrelen wie immer schlecht. Schon bald überkommt die Crew eine gewisse Trägheit, alle müssen sich an einstellige Speedo-Zahlen gewöhnen - ein ganz neues Fahrgefühl. So vergehen Stunden mit dem Gefühl, dass vor und hinter uns wohl alle Wettbewerber rekordverdächtigen Speed fahren, nur wir eben nicht. Wahrscheinlich hat Neptun den Kater seines Lebens und liegt derart in Sauer, dass an Windmachen noch nicht zu denken war. Dumm dabei, dass auf dem Bergfest die letzten Windbeutel verspeist wurden, wir also wieder auf fremde Hilfe in Sachen Wind angewiesen sind. Wobei wir hier auf hohem Niveau klagen. Denn schon bald zeigen sich erste 9, dann später 10 Knoten Wind und wir machen wieder spürbar Fahrt durchs Wasser (und wichtig: auch über Grund, Gegenstrom also zum Glück nicht das Problem).
Am Montagabend endlich wieder frischer Wind, und dabei fühlt es sich dann erstmals exakt so an, als seien wir auf dem Nordatlantik unterwegs. Am Himmel ein typisches Grau in Grau mit einem Hauch Greige, ein Farbkonzept, vor dem jeder Flamant-Designer mit leuchtenden Augen entzückt niederknien würde. Dazu kühler Wind und - fest gebucht - Sprühregen. Wir setzen den Gennaker und surfen bei 12-16kn Fahrt die Welle nhinab. Der Haken: Wo Wolken = kein Sonnen-, Mond-, oder Sternenlicht. Alles zusammen ergibt dann stockfinstere Nacht. Wir entscheiden uns sicherheitshalber für die Genua 2, die uns die Tage und vor allem Nächte über eine treue Freundin war, und mit der man im nächtlichen Blindflug, in dem man nur rotglühende Instrumente vor Augen hat, und sonstige Orientierung ein Fremdwort, ein besseres Gefühl hat. Zumal wir nicht vergessen wollen, dass unser Freund der Meeresgott ziemlich vekatert ist und damit ziemlich sicher miesmuschelig gelaunt.
Am Morgen wieder viel vom Selben: Grauer Himmel auf grauem Grund, Sprühregen, Delfine - das übliche Trara. Wäre es nicht so abgedroschen, hätte man diese Zeilen "50 Shades of Grey" genannt, nach gleichlautendem Blockbuster mit Niveau in Bodennähe. Aber wir sind ja nicht irgendwer, daher eben dieser Titel. Zum Brüllen komisch. Ha!
Unter Deck ziemliches Chaos, nichts mehr übrig von der aufgeklarten Raumstation. Stattdessen fordert die Feuchtigkeit Tribut: "Pfff" macht es hin und wieder an jeder Ecke, wenn mal wieder die Schwimmwesten auslösen, weil die Salztabletten durchgeweicht sind. Aufgrund zahlreicher Segelwechsel nasse Segelsäcke zieren die Bodenbretter und das Vorschiff, während ein Bouquet aus Handschuhen, Kopflampen, Sonnhüten, Turnschuhen und Angelsets für Anfänger emsig von der Decke baumelt.
Das Schiff läuft wieder gut und wir überlegen fieberhaft, wie wir durch das vor uns liegende Flautenband hindurchkommen, ohne selbst wieder in die Flaute zu fahren. Frei nach dem Motto, "Let's cross the bridge when you get there", vertagen wir die Entscheidung auf später und essen gut gelaunt in gesamter Crewstärke frisch zubereitetes Chili sin Carne zum Mittag. Unfassbar gut, und das OHNE Fleisch! Es sind solche kleinen Freuden des Seefahrerlebens, die uns den Alltag versüßen. Inmitten der verdienten "Oohs", "Mmmhs" und "Aaahs" hören wir plötzlich "Waaal! Daaaa!". 20 Augen blicken nach Luv wo kaum 30 Meter von uns entfernt ein großer Wal bläst und träge und unbeeindruckt hinter uns unseren Weg passiert. Vielleicht auf seinem Weg ins Wallokal....Ein wirkliches Erlebnis, ein solches Urtier in freier Wildbahn aus der Nähe sehen zu dürfen, und gleicherma0en die Mahnung, wachsam Ausschau zu halten. Trotzdem für alle von uns ein wirkliches Highlight am heutigen Tag. Wir hören aus der Navi, dass wir gut voran kommen, die taktische Entscheidung ist natürlich längst getroffen, aber darf vor dem Hintergrund der DSGVO leider nicht verraten werden. Seht ihr ja dann.
Bis dann aus dem grauen Alltag auf See,
Eure Broader View Hamburg-Crew
Felix Christiansen